Leseproben

Missmutig kramte ich in meinem Schrank und sah über die Schulter Vin, einen fetten und gleichermaßen hässlichen Kobold, an, der auf einer stinkenden Feldmaus herumkaute, die er wahrscheinlich meiner armen Katze abgejagt hatte. Als der grüne Wicht meinen Blick bemerkte, präsentierte er mir grinsend seine gelben Hauer und winkte fröhlich zu mir herüber. Finster grummelte ich eine Verwünschung und ignorierte das gackernde Kreischen meines unwillkommenen Gastes.
Seit ich vor gut einer Woche meinen Zauberschrank ausgemistet und die lästige Kreatur dabei wohl beim Winterschlaf gestört hatte, wich Vin mir nicht mehr von der Seite und hatte es sich wohl zur Aufgabe gemacht, mich in den Wahnsinn zu treiben.
"Brauchst du noch lange", quäkte plötzlich seine schrille Stimme hinter mir, "ich hab Hunger!"
Zähneknirschend stopfte ich den Ritualdolch, den meine Hand unwillkürlich umkrallt hatte, zurück in seine Scheide und wandte mich dem Kobold zu.
"Du isst doch gerade!", fuhr ich ihn an, doch das hässliche Biest zog nur beleidigt einen Flunsch.
"Aber nur eine alte Ratte. Ich hab aber richtigen Hunger! Mach mir einen Hackbraten!"
Ganz kurz sah ich vor meinem inneren Augen, wie ich Vin die Finger um seinen dicken Hals legte und feste zudrückte, bis ihm die Augen aus dem Kopf quollen, doch da ich nicht dazu neigte, Visionen zu empfangen, war das wohl nur ein Wunschtraum. Um ihn nicht doch noch Realität werden zu lassen, atmete ich tief durch und erwiderte bemüht liebenswürdig: "Du hast also Hunger? Dann hau ab und such dir was!"
Vin runzelte die warzenbesetzte Stirn und schob wieder die breite, dicke Unterlippe vor. "Du hast mich aber gerufen. Du bist für mich verantwortlich!"
"Ich hab dich nicht gerufen!", schrie ich wohl zum hundertsten Mal in diesen Tagen. "Du bist aus meinem Schrank gefallen!"
"Den du verwüsten musstest!"
"Ich habe nur aufgeräumt!"
"Ha!" Zufrieden zeigte der Kobold mit dem Finger auf mich. "Also gibst du zu, dass du mich aus dem Schlaf gerissen und zu dir gerufen hast!"
Wut schwappte durch meine Gedanken und einen Moment fürchtete ich, das Haus in Brand zu stecken, wie es meiner Cousine Carolin ergangen war. Allerdings war Caro auch ein Drache und ich nur eine drittklassige Hexe. Doch auch eine drittklassige Hexe konnte einen unverschämten Kobold zur Raison bringen.
"Pass bloß auf", zischte ich Vin also zu, der misstrauisch die Augen zusammenkniff, als er meinen warnenden Ton hörte, "sonst verwandele ich dich in eine hässliche Kröte - allerdings", fuhr ich zuckersüß fort, "ist mir da wohl schon jemand zuvor gekommen."
Vin streckte mir die Zunge heraus und mir wurde schlecht, als ich die Rattenüberreste darauf erblickte.
"Hör auf, mich zu quälen und mach mir was zu Essen! Immerhin hast du mich gerufen!"
Seufzend rappelte ich mich vom Boden auf. Ich sparte mir jeden weiteren Widerspruch, es hatte keinen Sinn. Anderwesen konnten einem die Worte im Mund herumdrehen, bis sie vor Schmerz brüllten. Also trollte ich mich in meine kleine Singleküche und plünderte den Kühlschrank auf der Suche nach verdorbenen oder verschimmelten Lebensmitteln. Vin schien Schimmel abgöttisch zu lieben und ich wollte ihm diesen Genuss nicht missgönnen - außerdem wurde ich so meine überlagerten Jogurts los.
"Und bring mir ein Bier mit!", blökte Vin aus dem Wohnzimmer, in dem mittlerweile lautstark der Fernseher lief. Wahrscheinlich eine neue Folge Buffy - Anderwesen waren ganz verrückt danach.
Schweigend stellte ich dem Kobold seinen Imbiss hin und widmete mich dann wieder der Suche nach meinem Hexeneinmaleins, dem Grundwissen der Anderwelt.
Ich fand das ledergebundene Buch ganz hinten in meinem Schrank, eingeklemmt zwischen einem marinierten Schlangenei und einer toten Kakerlake, die wohl die Altersschwäche dahingerafft hatte. Caro hatte durchaus recht: Ich war eine Schlampe.
Als ich das Büchlein hervorzog und von einer dicken Staubkruste befreite, schwor ich mir im Stillen, meine Schränke zukünftig sauber zu halten, damit sich lästige Untermieter wie Vin gar nicht erst ansiedeln konnten. Wie auf Kommando rülpste der Kobold lautstark und verbreitete einen bestialischen Gestank in meiner kleinen Wohnung.
"Kannst du dich nicht beherrschen?", fuhr ich ihn an, doch er zeigte mir nur den ausgestreckten Mittelfinger, während seine Augen immer noch am Bildschirm klebten. Mit einem gotteslästerlichen Fluch auf den Lippen, schlug ich mein Hexenbüchlein auf und blätterte wie wild darin herum, bis mir auf einer der letzten Seiten die hässliche Fratze eines grünen, warzigen Kobolds entgegengriente, den jemand so naturgetreu portraitiert hatte, dass ich kurz glaubte, Vins Gesicht vor mir zu sehen. Kopfschüttelnd betrachtete ich den kurzen Text unter der Illustration.
Kobold:
Kleiner, meist hässlicher Geselle mit grüner oder brauner Hautfärbung und rankem Wuchs
Zweifelnd starrte ich auf Vins schwabbelnden Bauch, der ihm gerade als Ablage für seine fetttriefenden Wurstscheiben diente. Entweder hatte das Buch hier einen Fehler gemacht oder Vin war einfach ein besonders unansehnliches Exemplar seiner Art. Ich glaubte an Letzteres.
Meist von bösartiiger Natur, sind Kobolde im Allgemeinen faul und neigen zu üblem Schabernack. Werden Kobolde jedoch gerufen, so dienen sie für die Zeit, die ihr Herr sie benötigt als Hilfe im Haushalt oder geben nützliche Hinweise in der angewandten Magie.
Na toll, Vin sollte mir im Haushalt helfen - dass ich nicht lachte! Der Kobold ließ sich seit Tagen von mir bedienen und hatte sich noch kein einziges Mal bedankt. Doch da ich meinem Hexeneinmaleins vertraute, deutete ich nun auf die leere Bierflasche, die achtlos in der Sofaritze klemmte, und fragte vorsichtig: "Räumst du die mal weg?"
Empört, ihn überhaupt mit einer derart lächerlichen Frage belästigt zu haben, warf der Kobold mir einen scheelen Blick zu, bevor er mir erneut die Zunge zeigte. "Bin ich vielleicht dein Haussklave?"
Hilfesuchend sah ich wieder auf die Buchseiten, doch der Text half mir kein Stück weiter. Was man mit einem widerborstigen Faulpelz anstellte, hatte noch niemand zu Papier gebracht und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Vin einsichtiger wurde, nur weil ich ihm vorlas, was das Hexeneinmaleins für ein Verhalten von ihm erwartete.
Doch plötzlich, wie von Geisterhand, blätterte das Buch eine Seite weiter und wo eben noch weißes Papier war, formten sich auf einmal Buchstaben...
Koboldjammer
Einhörner, Kobolde
und andere fantastische Wesen
Net-Verlag
ISBN: 978-3942229661
Aufruhr in ES WAR EINMAL
Es war einmal vor gar nicht langer Zeit die Tochter eines gewissen Herrn Fabian Königs mit dem Namen Jennifer. Jennifer Königstochter tat nichts lieber als vor ihrem geliebten Computer zu sitzen und ihrem besten und gleichzeitig festen Freund Sebastian Prinz Nachrichten zu schreiben. Über dies und jenes und sie freute sich immer wieder, wenn er ihr so schnell wie möglich antwortete.
Auch an diesem Tag erhielt sie eine E-mail von ihm und las vergnügt:
"Hab da was im Internet gefunden. Lol. Fand ich ganz süß für dich - Hdl."
Lächelnd betrachtete Jennifer Königstochter den Text, bevor sie den angefügten Anhang öffnete.
"Märchenhafter Zauberspruch - nicht Zuhause ausprobieren", murmelte sie, als sie das dort Geschriebene überflog, "dreimal die magischen Worte sprechen: Abra Kadabra im Märchen ist es wunderbar!"
Lachend zuckte Jennifer mit den Schultern, als sie ganz am Ende noch eine eindringliche Warnung las. "Was soll schon passieren?", fragte sie sich und sprach dreimal den Zauberspruch.
"Abra Kadabra", sie kicherte, als sie zum dritten Mal die Worte wiederholte, "im Märchen ist es wunderbar!" Und plötzlich begann der Computerbildschirm zu verschwimmen und ein Strudel aus bunten Farben tat sich auf, der Jennifer gnadenlos in sich hineinzog und verschluckte.
Schreiend fiel sie ins Bodenlose, ohne zu wissen, wo sie hingelangen würde, als ihr Körper plötzlich auf einer dicht bewachsenen Blumenwiese aufkam und ihr der Aufprall die Luft aus den Lungen presste. Keuchend lag sie da im Gras und betastete ihre schmerzenden Rippen, während ihr Herz noch immer panisch in ihrer Brust hämmerte. Was war da gerade geschehen?
Zaghaft hob Jennifer Königstochter den Kopf und fand sich Auge in Auge mit einem riesigen, schwarz-grauen Wolf wieder, dessen heißer Atem ihr ins Gesicht strömte, und dessen spitze Zähne bedrohlich näher rückten, als sie mit einem spitzen Aufschrei einen Satz zurück machte.
"Blöder Köter!", sagte da plötzlich eine Stimme und zwei feine Mädchenhände stießen den Wolf, der es sich anstandslos gefallen ließ, beiseite. "Sorry, das macht er immer", wandte sich das blonde Mädchen, dem die Hände gehörten, an Jennifer und strich sich eine verirrte Locke zurück unter ihre rote Mütze. Jennifer starrte sie sprachlos an und ließ dann den Blick schweifen. Vorbei an dem sabbernden Wolf, einer schwarzhaarigen Frau, die vor sieben kleinen Wichten stand, einer großen Blondine mit beeindruckender Haarmähne und einer Unmenge anderer Gestalten, die sie alle neugierig beäugten. Mit einem Japsen fuhr Jennifer zurück.
"Wo bin ich denn hier gelandet?", fragte sie ängstlich und sah wieder zu dem Mädchen mit der roten Mütze. Dieses zog lediglich eine Braue in die Höhe.
"Na wo wohl", schnappte sie spöttisch, "du bist in ES WAR EINMAL."
"Hä?"
Das Mädchen schlug sich mit der Hand an die Stirn. "ES WAR EINMAL - das Land der Märchen - hallo?! Das kennt doch jeder!"
Na klar, dachte sich Jennifer, sonst noch was? Doch sie sagte nichts und starrte stattdessen weiterhin auf die unzähligen Wesen, die sich nun dicht um sie drängten. "Dann seid ihr..."
Ein Schrei unterbrach ihren Satz und mit einem Krachen schlug ein weiterer Körper auf der Wiese auf, sodass Jennifer erneut das Gleichgewicht verlor. Als sie blinzelnd wieder die Augen öffnete, lag Sebastian fluchend neben ihr und rappelte sich umständlich auf. "Verdammt noch mal!"
"Basti?" Erleichtert ergriff Jennifer die Hand, die ihr Freund ihr reichte, um sie auf die Füße zu ziehen. "Gott sei Dank bist du da!"
"Und wo genau bin ich?", fragte dieser unwirsch und schaute misstrauisch zu dem Wolf, der sich hechelnd an seinem Bein rieb. Ein dicker Sabberklecks landete auf seiner Jeans und er verzog missbilligend das Gesicht.
"In ES WAR EINMAL", sagte das Mützen-Mädchen noch einmal und stemmte die Arme in die Hüften. "Wenn ihr zwei noch mal einen Zauber sprecht, solltet ihr vielleicht vorher mal nachgucken, wo er hinführt", grummelte sie, "so was leichtsinniges!"
Sebastian sah sie von oben bis unten misstrauisch an. "Und wer bist du?" Dabei stieß er den Wolf, der nun dabei war, seine mittlerweile klitschnasse Hose zu beschnüffeln, einfach aus dem Weg und zerrte Jennifer hinter sich. Diese sah zu dem Mädchen, das die Hand zu ihrer roten Kappe erhoben hatte.
"Na was glaubst du denn, wer ich bin, Schlaumeier?"
Sebastian lächelte zynisch. "Der Froschkönig."
"Rotkäppchen", schrie das Mädchen außer sich und zeigte wiederholt auf ihre leuchtend rote Mütze, "ich bin Rotkäppchen!"
"Ach nee."
Rotkäppchen stemmte zornig die Hände in die Hüften, während ihr Fuß ungeduldig auf dem Boden auf und ab wippte. "Sagt bloß nicht, dass unser Zauberspruch ausgerechnet euch zwei hierher gebracht hat!" Als beide nur wortlos nickten, kniff Rotkäppchen die Lippen zusammen. "Na ganz toll."
"Jetzt sei mal nicht so negativ!", ertönte da die Stimme der schwarzhaarigen Frau mit der milchweißen Haut. "Immerhin ist überhaupt jemand hier." Sie trat vor und reichte Jennifer und Sebastian die Hand. "Hi, ich bin Schneewittchen."
Jennifer krallte die Fingernägel in Sebastians Hemdärmel. "Ach du Schande!"
"Das ist echt abgefahren", stimmte ihr Freund ihr zu, während er über Schneewittchens Schulter die sieben kleinen Männer ansah, die dieser nicht von der Seite wichen.
Rotkäppchen lächelte ihm schmallippig zu, während sie sich zwischen die anderen Märchenfiguren und die beiden Neuankömmlinge drängte. "Tja, mit euch beiden hatten wir auch nicht wirklich gerechnet. Ihr seht nicht aus, als würdet ihr euch noch für Märchen interessieren."
Als Sebastian nur eine Braue hob, schob Jennifer sich hinter ihm hervor. "Na ja, früher habe ich viele Märchen gelesen. Als ich noch klein war."
"Märchen sind nicht nur für Kinder da", stellte Schneewittchen fest, was Rotkäppchen sofort mit einem Nicken bestätigte. "Aber Kinder sehen die Dinge noch klarer."
"Klarer?"
"Sie glauben noch an die Märchen, in denen sich ja immer eine Wahrheit versteckt. Aber die Erwachsenen sehen sie nicht." Rotkäppchen zuckte mit den Schultern. "Aber nun seid ihr ja schon mal da."
Sebastian und Jennifer sahen sich ein wenig ratlos an, bevor sie fragten: "Ja, aber warum eigentlich?"
Bevor Rotkäppchen noch antworten konnte, erklärte schon Schneewittchen: "Um die Märchen zu retten. ES WAR EINMAL versinkt im Chaos und daran ist nur die Hexe Schuld!"
"Welche Hexe?"
"Na Mensch, die Märchenhexe natürlich! Die von Hänsel und Gretel, Rapunzel - ihr wisst schon, dieses alte Runzelweib!" Wie immer fuchtelte Rotkäppchen ungeduldig mit den Armen, während sie dies erklärte. "Die Alte war ja schon immer unausstehlich, aber jetzt hat sie den Vogel abgeschossen!"
Die anderen Märchenfiguren nickten einstimmig, worauf das Mädchen fortfuhr: "Sie hat die Happy Ends gestohlen!"
"WAS?" Sebastian und Jennifer sahen erst sich, dann Rotkäppchen verwirrt an. "Was bedeutet das?"
"Die Happy Ends - sie sind weg. Die Märchen können nicht gut ausgehen und gehen nicht mehr weiter. Wir stecken fest!"
Verblüfft trat Jennifer einen Schritt vor und deutete auf den zufrieden sabbernden Wolf. "Aber der wirkt doch harmlos. Wozu denn ein Happy End?"
Rotkäppchen zeigte ebenfalls auf das Tier: "Der Köter hat meine Großmutter gefressen! Darum ist der so harmlos! Der ist satt! Und wir anderen sitzen fest, weil die Märchen nicht weiter gehen können!"
Sie zeigte auf die Gestalten, die auf der Wiese standen. "Rapunzel, Schneewittchen und ich konnten uns gerade noch retten, aber Dornröschen schnarcht schon seit Tagen vor sich hin und der Froschkönig wird von der Prinzessin immer noch an die Wand geworfen und hat schon Kopfschmerzen, obwohl nix passiert!"
Bedauernd schüttelte Jennifer den Kopf. "Aber warum tut ihr denn da nichts dagegen?"
"Wie denn? Die Hexe hat uns aus unseren Märchen vertrieben und nun sind wir schon seid Tagen hier auf der Lichtung und warten auf Hilfe!"...
Aufruhr in ES WAR EINMAL
Moderne Märchen für Kinder
Net-Verlag
ISBN: 978-3942229401
Wie die Schneekönigin ihr Herz verlor
Es gibt Feenwesen auf dieser Welt, die so alt sind, dass selbst die Menschen von ihnen gehört haben. Eines dieser Wesen ist die Schneekönigin – eisig schön wie der frostige Wintermorgen und ebenso kalt. Ihr Leben dauerte nun schon so lang an, dass sie die Geschicke der Menschen mied und deren Gefühle nicht verstand. Auch die Liebe war ihr unbekannt, was ihr die Sterblichen fälschlicherweise als Boshaftigkeit auslegten.
Nur ein Spiegel aus purem Eis zeigte ihr das Leben außerhalb ihres eisigen Schlosses. Doch eines Tages, als ihre Einsamkeit sie zu erdrücken drohte und ihre verzweifelten Schreie durch die Korridore des Schlosses hallten, zerbarst der Spiegel in tausend Scherben und die Splitter regneten auf die Welt der Menschen nieder.
Zu dieser Zeit im tiefsten Winter schaufelte der begehrteste Junggeselle eines kleinen Dorfes gerade Schnee. Er und seine Schwester Gerda kümmerten sich um die dem Tode nahe Großmutter und obwohl es ihm an weiblicher Aufmerksamkeit nicht mangelte, hatte Kay kein Interesse daran, sich mit einer seiner diversen Gespielinnen zu binden.
Als er nun aber gerade den letzten Schneehügel zur Seite schob, fielen zwei Splitter des Eisspiegels vom Himmel und bohrten sich ihm in Herz und Auge. Augenblicklich versiegte die Leidenschaft in seinem Herzen und die Schönheit seiner vielen Geliebten wurde von dem Spiegelstück in seinem Auge getrübt.
Als er einige Tage später nach erneutem Schneeschieben zurück in die Wärme seines Hauses trat und den Schneeschieber in die Ecke stellte, lugte seine Schwester aus der Küche und runzelte mürrisch die Stirn. „Drei deiner Freundinnen haben angerufen. Vanessa, Melina und eine Lanini, Lalina?"
„Lalani?", fragte Kay gleichmütig. Gerda nickte und schnaufte.
„Lalani – du machst auch vor nichts halt." Als ihr Bruder nicht in ihr Kichern einstimmte, warf sie ihm einen verwunderten Blick zu. Kay sah sie mit kühlem Desinteresse an. So kühl, dass es Gerda fröstelte.
„Was ist los mit dir?"
„Wenn eine von ihnen sich wieder meldet, sag ihnen, ich wünsche keinen weiteren Kontakt."
Gerda zog die Brauen hoch und schürzte die Lippen. „Glaubst du, ich bin deine Sekretärin? Ach nein, die hast du ja auch schon gevögelt." Sie seufzte, als nicht das kleinste Schmunzeln auf seinen Lippen zu sehen war. Als angesehener Manager war Kay der Traum jeder Frau – und wahrscheinlich auch des ein oder anderen Mannes. Mit Mitte dreißig machte er noch keine Anstalten, die Institution Ehe auch nur zur Kenntnis zu nehmen – zum Leidwesen unzähliger Ehemänner und zum Entzücken der jeweiligen Gattinnen.
Gerda rollte mit den Augen, als sie nun seine gelangweilte Miene sah. Was immer ihr Bruder jetzt schon wieder ausheckte, sie hoffte, dass sie sich damit nicht herumschlagen musste. Seit Kay zu ihr gezogen war, weil ihre Großmutter mittlerweile pflegebedürftig geworden war, schleppte er eine ganze Latterie Freundinnen an. Und keine davon blieb lange genug, dass sie sich ihren Namen merken konnte. Lalani – also bitte!
Ohne ein weiteres Wort verschwand Kay in dem Flügel des Hauses, den er für sich beansprucht hatte.
Währenddessen ertönten in der anbrechenden Nacht zarte Glöckchen. Ein kristallener Schlitten ragte wie ein Gespinst aus Nebel aus der Dunkelheit. Darin saß die Schneekönigin und vergoss eisige Tränen. Sieben Schneeeulen umringten sie, jede mit einem glitzernden Stück des Eisspiegels im Schnabel. Die Schneekönigin nahm sie entgegen, doch ihr Lächeln wirkte so herzzerreißend traurig, dass selbst der Mond sein Antlitz hinter den Wolken verbarg. So viele Scherben hatte das schöne Feenwesen wieder in seinen Besitz gebracht, doch ihr Spiegel war noch immer unvollständig. Zwei Splitter fehlten ihr.
„Sie sind in einem Sterblichen", wisperte sie, die Stimme wie Regen, der in eine eisige Bergquelle tropfte. „Und sie werden ihn töten." Ihr Herz, so kalt wie die unendlichen Tiefen der Arktis, zog sich bei diesem Gedanken zusammen und sie stieß einen verschreckten Schrei aus, sodass die Eulen in alle Richtungen davonstoben. Ihr uraltes Blut rauschte in ihren Adern und flüsterte ihr zu: „Du kannst ihn retten." Die Schneekönigin blinzelte. Nie hatte sie ein Leben gerettet. Wehmütig griff sie nach dem Blatt einer alten Eiche, deren Äste tief am Boden hingen. Kaum berührten ihre Fingerspitzen das letzte Grün, das der Winter noch nicht verschlungen hatte, schon erstarrte der ganze Baum zu purem Eis. Die Schneekönigin zuckte zurück und ließ bittere Tränen auf die Spiegelscherben in ihren Händen niederregnen.
Es war so früh am Morgen, dass bleiernes Grau das Schwarz der Nacht ablöste, ohne wirkliche Helligkeit zu schenken, als Autoreifen vor Kay und Gerdas Haus zu hören waren. Beide Geschwister waren wach, um sich um die Großmutter zu kümmern, und warfen sich nun einen fragenden Blick zu. Als ein Klopfen an der Haustür ertönte, zuckte Gerda zusammen.
„Sag mir nicht, eine deiner Geliebten kommt schon um diese Uhrzeit", versetzte sie beißend, doch Kay ging nicht auf sie ein. Über Nacht war er kalt und gleichgültig geworden und Gerda konnte sich diesen Sinneswandel in keinster Weise erklären. Als er nun zur Tür ging und diese öffnete, schlüpfte sie an ihm vorbei, um ebenfalls einen Blick auf den frühmorgendlichen Besucher zu erhaschen. Ihr stockte der Atem.
Auch Kays Gleichmütigkeit verflog, als er den Neuankömmling sah. Eine Frau, schön und klar wie einer der Sterne, stand vor der Tür. Ihre Haut war bleich wie frisch gefallener Schnee, das Haar silbrig wie verwobenes Mondlicht und die Augen so strahlend blau wie geschliffene Saphire. Mit einem Mal spürte er eine nie gekannte Sehnsucht in seinem Herzen. Die schöne Unbekannte trug einen weißen Mantel, der ihren zarten Körper unter sich zu begraben drohte. Und obwohl er diese kühle Schönheit noch nie gesehen hatte, empfand er ein Verlangen, das ihn erschreckte. In seinen Augen war sie so schön, dass es beinahe wehtat, sie anzusehen.
„Hallo", wisperte die Fremde, als Kay und Gerda sie nur mit offenen Mündern betrachtet hatten. Kay mit unverhohlener Begierde, Gerda sichtlich misstrauisch.
„Was wollen Sie?", schnappte sie unhöflich. Gerda war versucht, Kay die Tür aus der Hand zu reißen und sie der Unbekannten vor der Nase zuzuschlagen. Wer immer sie war, irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
„Ich habe etwas verloren", sagte die Fremde. Ihre blauen Augen richteten sich auf Kay, dann auf Gerda, die ein eisiges Kribbeln im Rücken spürte. „Und was?", fragte sie mürrisch, während sie Kay, der anscheinend mit plötzlicher Stummheit geschlagen war, einen bitterbösen Blick zuwarf.
„Ich…" Die Frau blinzelte, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte. Eindringlich starrte sie Kay an. Dieser lächelte zurück. Der kühle Blick mit dem er Gerda und Großmutter die letzten Tage bedacht hatte, verwandelte sich in heiß glühende Leidenschaft. Die Unbekannte schien es zu spüren, denn sie machte unsicher einen Schritt zurück. Und Kays Füße – diese verräterischen Dussel – folgten ihr natürlich prompt. Gerda pustete sich genervt ein paar Haarsträhnen aus der Stirn.
„Was immer es ist", murmelte sie, „wir haben es sicher nicht. Viel Glück noch bei ihrer Suche." Damit schubste sie Kay einfach von der Schwelle und schlug die Tür zu energisch zu, dass sich der Schnee vom Dach löste. Boshaft grinsend hoffte sie, die Frau da draußen hatte eine stattliche Menge davon abbekommen. Als Kay jedoch knurrte, verflog ihr Grinsen.
„Was soll das?" fuhr er sie an und angelte nach der Türklinke. Gerda hing sich an seinen Arm.
„Mit der stimmt was nicht!", beeilte sie sich zu sagen. „Wenn ich es nicht besser wüsste…"
„Dann was?", schnaubte Kay spöttisch. Seine kalte Arroganz tat seiner Schwester weh, doch sie sagte nur barsch: „Nicht wichtig. Hauptsache, die verschwindet."
Doch kaum ließ sie Kays Hand los, öffnete er die Tür und beide sahen die Fremde, wie sie – zu Gerdas maßlosem Ärger vollkommen trocken – in den Fond einer weißen Limousine einsteigen wollte. Ihre Miene sah so traurig aus, dass Gerda fast ein schlechtes Gewissen bekam, ihr nicht geholfen zu haben. Dieses verschwand jedoch jäh, als Kay sich an ihr vorbeizwängte und in die Limousine einstieg, bevor diese mit dröhnendem Motor davonfuhr. Gerda hechtete aus der Tür, doch der Wagen verschwand viel zu schnell und kurz bevor er um eine Ecke bog, hätte sie schwören können, statt dem Auto einen riesigen Schlitten zu sehen. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Dann jedoch stapfte sie resolut ins Haus und zerrte ihre Wintersachen vom Garderobenhaken. Wenn Kay dachte, er könne sie einfach allein lassen und mir nichts, dir nichts mit dieser seltsamen Frau verschwinden, hatte er sich geschnitten. „Verfluchte, komische Kuh", zischte Gerda wütend, zuckte jedoch zusammen, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Als sie verschreckt herumfuhr, begegnete sie dem ängstlichen Blick der Großmutter.
„Die Schneekönigin", hauchte sie, sodass Gerda sich zu ihr beugen musste, um die Worte zu verstehen. Nun runzelte sie die Stirn.
„Wer?"
„Die Schneekönigin. Sie hat Kay entführt… sie… „ Gerda half ihrer Großmutter auf einen Küchenstuhl, schüttelte jedoch den Kopf. „So was wie die Schneekönigin gibt’s nicht. Und entführt wurde Kay auch nicht. Der Blödmann ist selbst mitgegangen."
„Finde ihn!", sagte die Großmutter ungewohnt energisch und Gerda fügte sich seufzend.
Indes hatte Kay zwar bemerkt, dass sie die weiße Limousine wie durch Zauberhand in einen von seltsamen weißen Tieren gezogenen Schlitten verwandelt hatte, jedoch war es ihm gleichgültig. All seine Sinne waren auf die Frau konzentriert, die sich in eine Ecke der Sitzpolster drückte und ängstlich seinen Händen auswich. Der Mann knurrte verstimmt.
„Rühr mich nicht an", bat die Schöne, die Stimme nunmehr ungewohnt klirrend und klingend wie ein Glockenspiel. „Du wirst du Eis erstarren. Bitte…" Ihre Worte wurden von seinen Lippen verschluckt, die er ungestüm auf die ihren presste. Hektisch versuchte sie ihn von sich zu stoßen, nur um im nächsten Moment die Finger in seinen Kragen zu krallen. Kay grinste süffisant. Von wegen zu Eis erstarrt, da musste sie sich etwas Besseres ausdenken. Er wusste nicht, warum, doch sein Herz bestand darauf, dass diese da die Seine war und er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass sie ihn von sich stieß.
Als er endlich seinen Mund von ihr löste, keuchte sie. Hektisch japste sie nach Luft und beäugte ihn so vorsichtig, als hätte sie Angst, er würde sie anfallen – zum zweiten Mal.
„Ich… ich brauche dich…" stammelte sie und sofort beugte sich Kay wieder zu ihr hinüber. Jedoch schaffte sie es, flink aus seiner Reichweite zu krabbeln. „Mein Spiegel… ich brauche…"
Kay lehnte sich grinsend in die weichen Polster zurück und genoss das angenehme Ziehen in seiner Lendengegend. Sein Glied presste sich gierig pochend an seine Hose und er machte keine Anstalten, seine Bewunderung vor der hübschen Fremden zu verbergen. „Du brauchst mich", schnurrte er wie ein zufriedener Kater. Was es mit irgendeinem Spiegel auf sich hatte, war ihm gleich. Sie sah atemberaubend aus. Mit zerzaustem Haar und geschwollenen Lippen.
Als sie seinen Blick bemerkte, hob sie vorsichtig die Finger an eben diese Lippen und runzelte die Stirn. „Du bist nicht zu Eis erstarrt." Ihr Ton war beinahe ehrfürchtig und Kay sonnte sich in ihrem bewundernden Blick.
„Nein. Damit hältst du mich also nicht von dir fern", er lächelte herausfordernd und genoss ihr weibliches Seufzen, als ein Schauer durch ihren zierlichen Körper fuhr. „Sag, hübsches Kind, wie heißt du eigentlich?"
Sie hob die Brauen. „Du… du weißt es nicht?"
Angestrengt dachte Kay nach. Hatte sie es ihm womöglich schon gesagt? Als ihr Blick eindringlicher wurde, fühlte er sich zunehmend unwohl. Er hatte zwar schon ein zweimal die Namen seiner Gespielinnen vergessen, aber da waren sie immer schon aus seinem Bett verschwunden. Und dieses hübsche Ding war noch nicht einmal drin gewesen. Als er nur ratlos vor sich hinstarrte, hauchte sie: „Die Menschen nennen mich… die Schneekönigin."
Wie die Schneekönigin ihr Herz verlor
Weltentor - Fantasy
Noel-Verlag
ISBN: 978-3954930296
Die roten Haare der Cornelia Blue
"Tja, sie ist tot." Mit diesem Satz richtete sich Filias Spitzohr wieder auf und bedachte die Anwesenden mit stechendem Blick. Die spitzen Elbenohren, denen er seinen charakteristischen Namen zu verdanken hatte, lugten zwischen den goldenen Strähnen seines langes Haars hervor, und der tropfenförmige Blautopas, der an einem von ihnen baumelte, wies ihn als Ermittler der AWP - der Anderweltpolizei - aus. Innerhalb des Feenvolks waren Morde gelinde gesagt an der Tagesordnung, sodass Filias nicht verblüfft gewesen war, als er aus seinem warmen Moosbett gerissen worden war und in zerknitterter Leinenjacke plötzlich mitten in eine obskure Geisterbeschwörung hereinplatzte. Schwarze Magie war innerhalb der Anderwelt verboten und der Leichnam der jungen Hexe auf dem Boden zeigte auch deutlich, warum.
Allerdings schienen es keine überirdischen Mächte gewesen zu sein, die der Frau das Leben genommen hatten, denn das Messer in ihrem Rücken wirkte durch und durch irdischer Natur. Was Filias wieder auf die anderen Anwesenden brachte, die mit teils verängstigten und teils morbid neugierigen Gesichtsausdrücken um den Tatort herumstanden und eventuelle Spuren - wie Filias mit missbilligendem Blick auf einen Pferdeapfel, der ganz eindeutig von dem Zentaur stammte, feststellte - verwischten. Lautlos seufzend wandte sich der Elb an seinen Gehilfen, einem vor Aufregung fiebrig wirkenden Brückentroll, dessen gelbe Hauer links und rechts aus seinen Mundwinkeln staken und den Boden mit einer Mischung aus Galle und Speichel bedeckten. Noch heute fragte Filias sich, wie Brom es zum AWP geschafft hatte. Doch sei es drum. Es gab Wichtigeres zu klären.
"Die Tote hieß Cornelia Blue", berichtete Brom eifrig, "sie war eine Lernhexe der zweiten Kaste und stand kurz vor ihrer Magischen Weihe. Hat sich gerade von ihrem Freund getrennt, der aber vor fast einem Monat spurlos verschwunden ist. Mit ihren 2367 Jahren hatte sie noch keine Lizenz zum Schwarz-Zaubern und...", er blätterte den Block um, wobei eine gelbe Kralle das zarte Papier einriss, "die Geisterbeschwörung war nicht angemeldet!"
Eine Nebensächlichkeit, wenn man bedachte, dass heute jemand den Tod gefunden hatte, doch Filias würde den Kollegen vom Ministerium für Angewandte Beschwörungen trotzdem einen dezenten Hinweis geben.
"Gut. Da sie erdolcht wurde, musste der Täter folglich in ihrer Nähe gewesen sein, was bedeutet", Filias machte eine bedeutungsschwangere Pause, wobei er die vier restlichen Magischen mit scharfen Blicken maß, "dass der Mörder noch hier sein muss!"
Die roten Haare der Cornelia Blue
Krimis aus der Hexenküche
Der Kleine Buchverlag
ISBN: 978-3942637084